Louises Geliebter ist Magier, der sich auf Illusionen spezialisiert hat, genauer gesagt auf Verschwindetricks. Als er eines Tages während seiner Show tatsächlich spurlos verschwindet, landet Louise aufgrund des Schocks in der Psychartrie. Dort gebiert sie neun Monate später einen Jungen, welcher über eine ganz besondere Eigenschaft verfügt: Er ist unsichtbar. Als er älter wird, verbietet seine Mutter ihm den Kontakt mit anderen Menschen, da sie ihn ja doch nicht sehen können. So existiert Mon Ange/Mein Engel nur für sie, bis er eines Tages das Mädchen Madeleine kennen lernt, welche gegenüber der Anstalt wohnt. Da sie blind ist und ihn somit nur hören, riechen und fühlen kann, beginnt er nun auch für sie zu existieren. Als sie aber nach einiger Zeit für eine Augenoperation wegfährt, fürchtet Ange um seine Existenz.
Anfangs wirkt Mein Engel noch wie das Psychogramm einer kranken Frau, die sich ihr Kind einbildet. Schon bald aber weicht der Film von dieser Schiene ab, zeigt dem Zuschauer, dass er nur mit dessen Erwartungen gespielt hat. Denn Ange ist alles andere als Fiktion, er ist real – nur eben unsichtbar. Ob das überhaupt möglich ist – ein weinendes Baby würde das Klinikpersonal ja nun auch dann hören, wenn es nicht zu sehen ist, und zumindest die letzten Monate einer Schwangerschaft gehen sicher auch nicht unbemerkt vorbei, von der Geburt an sich ganz zu schweigen – dieser Frage geht Mein Engel nicht nach. Tatsächlich wird in diesen Belangen erfolgreich auf die suspension of disbelief gesetzt, der eigentliche Fokus liegt nämlich auf Madeleine oder genauer gesagt: Auf der Beziehung zwischen Ange und Madeleine.
Ange ist – logischerweise – nie zu sehen, sondern nur aus dem (tatsächlichen oder visuellen) Off zu hören. Etwas von ihm gibt es allerdings durchaus zu sehen, nämlich diverse Interaktionen mit seiner Umgebung. Marc Hericher und Willy le Bleis, welche für die Spezialeffekte zuständig waren, haben hier exzellente Arbeit geleistet. Ange schreibt, benutzt einen Löffel, wäscht sich die Hände, spielt Klavier, schlägt ein Fenster ein, legt sich ins Bett – all das ist zu sehen, ohne dass Ange zu sehen ist, was oftmals beeindruckend inszeniert ist. Doch während Ange eine Stimme hat und Dinge bewegt, wird der Charakter durch etwas ganz anderes zum Leben erweckt: Dem Schauspiel der Damen um ihn herum. Zu keinem Zeitpunkt wirkt es, als sprächen seine Mutter oder Madeleine zur Luft, durchgehend vermitteln sie den Eindruck, Ange sei wirklich da, sei sichtbar. Insbesondere das Casting der Madeleine ist ein absoluter Volltreffer: Da sie in drei verschiedenen Lebensphasen zu sehen und somit jeweils unterschiedlich alt ist, könnte man schnell meinen, der Film sei wie Boyhood über mehrere Jahre hinweg gedreht worden – aber nein, ein Blick in den Abspann verrät, dass drei separate Schauspielerinnen in die Rolle schlüpften, welche einander so sehr ähneln, dass es sich bei ihnen tatsächlich um ein und dieselbe Person zu unterschiedlichen Zeiten handeln könnte.
Mein Engel macht also vieles sehr richtig, doch die Story reicht leider nur, um etwa die halbe Laufzeit der bereits unterdurchschnittlich langen 80 Minuten zu füllen. Ein vierzigminütiger Kurzfilm wäre dem Plot sehr viel gerechter geworden, nun aber wird zu oft auf der Stelle getreten, einige Szenen ziehen sich, andere wollen nicht ins Gesamtbild passen. Auch die Erzählperspektive ist nicht immer eindeutig. So ist das meiste zwar aus Anges POV zu sehen, hier und da nimmt die Kamera jedoch einen neutralen Standpunkt ein. Der Beweggrund dafür ist selten nachvollziehbar.
Mein Engel ist ein verträumter Film, der sich leider zu sehr in sich selbst verliert, wodurch viele Passagen unnötig lang oder direkt überflüssig wirken. Fantastisches Schauspiel, gelungene Spezialeffekte und das Ende aber laden zu einer einmaligen Sichtung ein.
Bewertung: 6/10